Unsere Abendmahlsfeiern – nur eine halbe Sache?

Von Wolfgang Kraska aus SPEKTRUM

 

Wenn wir das Abendmahl nicht nur als Zeichen der Erlösung durch Christus feiern, sondern auch als Ausgangspunkt unserer Sendung als Gemeinde begreifen, können unsere Gottesdienste eine neue Feier-Qualität bekommen.

In unserem Land denken zurzeit viele engagierte Christen, aber auch ganze Gemeinden und Verbände über ihre Identität, ihre Prioritäten und Grundwerte nach. Nicht zuletzt die Impulse, die wir aus Amerika bekommen haben (Bill Hybels, Bob Logan, Rick Warren und andere) haben den Anstoß dazu gegeben. Dabei geschieht es häufig, dass Gott einen neuen Blick für den eigenen Auftrag schenkt. Wir wissen ja längst, dass wir mit Gott versöhnt sind. Aber wir haben oft aus dem Blick verloren, dass dies einem weiterführenden Ziel dienen soll. Wir sind erlöst, damit wir unser Leben in Gottes Sache investieren können. Wir dürfen an seinem wichtigsten Anliegen, dem Bau seines Reiches beteiligt sein. Wir sollen und können etwas sein zum "Lobpreis seiner Herrlichkeit" (Eph 1,12). Dafür leben wir. Deshalb gibt es Gemeinde. Wir sind Gottes Volk. Welch ein Geschenk! Gott würdigt uns, seine Mitarbeiter zu sein. Gott beschenkt uns mit einer Perspektive, die unserem Leben Sinn gibt und für die es sich zu leben lohnt. - Das muss gefeiert werden, und es gibt ein Ereignis, das Jesus selbst dafür vorgesehen hat: das Abendmahl!

Wir sind erlöst, damit wir unser Leben in Gottes Sache investieren.

Das Abendmahl? Ausgerechnet das Abendmahl? Geht es da nicht um die Befreiung von der persönlichen Schuld, die uns von Gott trennt, und um unsere ganz individuelle Beziehung zu Jesus? Wird das Abendmahl nicht verftemdet, wenn wir dort auch von der Sendung der Gemeinde reden? Besteht nicht die Gefahr, dass an die Stelle des entspannten Feierns unterschwellig der Appell zur Mitarbeit und somit Druck und Stress treten? Würden wir dadurch nicht das Abendmahl verlieren?

Nein, ich denke, das Gegenteil könnte geschehen! Wir könnten das Abendmahl wieder neu - oder auch zum ersten Mal überhaupt in seiner vollen Bedeutung - entdecken. Und wir würden den Zusammenhang zwischen Erlösung und Sendung neu begreifen. Denn wir haben tatsächlich doppelten Grund zu feiern: unsere Erlösung und unsere Berufung. Und um beides geht es im Abendmahl. Sind Sie bereit, das zumindest an der Schrift zu prüfen und sich darauf einzulassen, wenn es sich als richtig erweisen sollte (1 Thess 5,2l)? Dann lade ich Sie zu einer, wie ich finde, aufregenden biblischen Entdeckungsreise ein.

Individualsitische Engführung

Das Problem besteht darin, dass wir das Abendmahl ausschließlich von unserem individuellen Heil her verstehen."Christi Leib, für dich gebrochen - Christi Blut für dich vergossed'- mit diesen Worten werden oftmals Brot und Wein durch die Reihen gegeben. Dabei tun wir so, als gehe es bei Brot und Wein zweimal um die gleiche Sache, nämlich um die Vergebung unserer Schuld und unsere Annahme bei Gott. Aber - so sehr uns das auch zunächst erstaunen mag - das ist nicht der Fall, wenn wir die Bibel dazu befragen.

Natürlich ist es richtig, dass Jesus uns mit seinem Blut freigekauft und zu Gottes Kindern gemacht hat (etwa 1 Petr 1, 18f ). Und trotzdem geht es beim Wein des Abendmahls nicht primär um diesen Aspekt. Der Wortlaut der Einsetzungsworte weist auf einen anderen Punkt hin, und zwar übereinstimmend in allen vier Berichten des Neuen Testaments. "Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut', lesen wir bei Lukas (22,20) und ebenso in 1 Kor 11,25. Und Mt 26,28 und Mk 14,23 überliefern Jesu Wort zum Kelch ganz ähnlich:"Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird' Das bedeutet: Jesus hat beim Abendmahl im Brot und im Wein zwei verschiedene Schwerpunkte gesetzt. Das Abendmahl gleicht einer Ellipse mit zwei Mittelpunkten. Es geht um zwei unterschiedliche Inhalte, auch wenn sie ohne Frage eng zusammenhängen, wie wir noch sehen werden. Das Brot meint in der Tat unsere ganz persönliche Versöhnung mit Gott, die Befreiung von unserer Sünde durch das Sterben Jesu Christi am Kreuz. Aber beim Kelch geht es nach Jesu Aussage um etwas anderes: um einen neuen Bund, den Gott mit den so Erlösten und Befreiten schließen will. Das Abendmahl hat nicht nur mit der Seligkeit der Einzelnen, sondern auch mit dem Missionsauftrag der ganzen Gemeinde zu tun. Der Herr sendet und bevollmächtigt uns. Zum Abendmahl gehört deshalb auch, dass die Gemeinde sich neu auf ihre Identität als Volk Gottes besinnt, ihre Berufung feiert und dafür gestärkt wird.

Dabei ist die Erlösung ohne Frage die unerlässliche Voraussetzung für die Sendung und, wenn man so will, aus unserer menschlichen Sicht der wichtigere Aspekt. Aber aus Jesu Sicht könnte das doch anders aussehen. Unsere Erlösung hat nämlich ein Ziel: Wir sind erlöst, damit wir würdig und fähig sind, gesandt zu werden. Jesus jedenfalls stellt beide Mittelpunkte im Mahl gleichgewichtig nebeneinander."Er hat uns fähig gemacht, Diener des neuen Bundes zu seid' (2 Kor 3,6), schreibt Paulus. Um die Bedeutung dieses Gedankens wirklich nachvollziehen zu können, müssen wir einen Blick ins Alte Testament werfen.

 Israels Berufung zum Bundesvolk

Im 2. Buch Mose wird uns berichtet, wie Israel zu Gottes auserwähltem Volk, zum Volk des Alten Bundes wird. Zwei Monate nach dem strapaziösen Auszug aus Ägypten kann das Volk endlich in der Wüste Sinai - dem Berge gegenüber - eine längere Rast einlegen (2 Mose 19,1f). Bekannt ist von diesem Ereignis vor allem, dass das Volk dort die 10 Gebote erhält. Weniger bewusst ist in der Regel, dass dies nur Teil eines größeren Gesamtvorgangs ist. Die Frage lautet: Warum und wozu bekommt Israel eigentlich die 10 Gebote? Der biblische Bericht lässt uns da nicht im Unklaren. Schon bald nach der Ankunft am Sinai steigt Mose zu Gott hinauf auf den Berg. Dort eröff- net ihm Gott seine weiteren Absichten und Pläne. Er will mit Israel einen besonderen Vertrag schließen. Israel soll Gottes auserwähltes, heiliges Volk, sein Eigentum vor allen Völkern sein (2 Mose 19,5f). Dabei will Gott keineswegs zur Lokalgottheit, zum Hausgott Israels werden. Schließlich ist doch die ganze Erde sein Eigentum (V. 5b). Es deshalb gerade umgekehrt: Israels Berufung hat ihren Grund im weltumspannenden Anspruch Gottes. Der ganzen Menschheit gegenüber soll Israel ein Volk von Priestern sein. Priester stellen die Brücke zwischen Gott und den Menschen dar, und in dieser Funktion will Gott Israel als Bundesvolk gebrauchen. An Israels Ergehen, an seiner Geschichte soll die ganze Welt erkennen, dass es einen Gott gibt. Die Völker sollen veranlasst werden, nach diesem Gott zu fragen. Aus diesem Grund und mit diesem Ziel hat Gott Israel erwählt. Aber Israel wird nicht gegen seinen Willen in diesen Bund gepresst, sondern Gott lässt das Volk fragen, ob es denn wirklich der Stimme Gottes gehorchen und den Bund halten will. Das will gut überlegt sein. 

Mose berät darüber mit den Ältesten und erhält auch die grundsätzliche Zustimmung des Volkes. Doch bevor der Bund wirklich geschlossen wird, erfolgt eine Konkretion, was es denn heißt, der Stimme Gottes zu gehorchen und den Bund zu halten, eben die 10 Gebote. Daneben werden in den Kapiteln 20 bis 23 eine ganze Reihe weiterer Vorschriften und Regeln genannt, die dem Volk vorgetragen werden. Die Menschen sollen wissen, worauf sie sich einlassen und wozu sie ja sagen. All dies ist noch Vorinformation, vergleichbar einem Traugespräch, bei dem dem Brautpaar die Bedeutung des Eheversprechens dargelegt wird. Und Israel sagt ja zum Bund, den Gott anbietet (2 Mose 24,3).

Auf diesen Volksentscheid hin schreibt Mose die Vertragsinhalte in ein "Buch des Bundes". Nachdem ein Altar aus zwölf großen Steinen entsprechend den zwölf Stämmen Israels gebaut ist, kann die eigentliche Zeremonie des Bundesschlusses beginnen. Am Anfang stehen Brand- und Dankopfer. Die Menschen des Volks müssen zunächst von ihrer Schuld gereinigt werden, wenn sie Gottes Bundespartner sein sollen. Daraufhin wird noch einmal - nun sozusagen feierlich und rechtsgültig - das Buch des Bundes vorgelesen. Und einmütig gelobt das ganze Volk: "Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun und darauf hören“(2 Mose 24,7). Nach dieser offiziellen Bundeserklärung seitens des Volkes geschieht das für unser Thema Entscheidende: Mose nimmt einen Teil des Blutes der Opfertiere und besprengt damit das Volk. Für uns ist dies eine eher ekelhafte Vorstellung. Aber für den Zusamenhang ist es elementar wichtig, wie Mose diese Zeichenhandlung erläutert:"Seht, das ist das Blut des Bundes, den der Herr mit euch geschlossen hat auf Grund aller dieser Worte" (V. 8). Damit hat das Volk ein sichtbares und körperlich spürbares Zeichen bekommen, dass dieser Bund gilt. Gott wird sein Wort halten und Israel schützen. Das Volk gehört ihm in ganz besonderer Weise, "vor allen Völkern'. Aber Israel hat andererseits einen Auftrag, den es auszuführen gilt. Für beide Aspekte ist das Blut des Bundes ein unübersehbares Zeichen.

Ich habe diese zentralen Ereignisse aus Israels Geschichte so ausführlich dargestellt, weil sie voller parallelen und Bezüge zum Abendmahl sind. Insbesondere begegnet uns das "Blut des Bundes" wörtlich beim Wein bzw. Kelch des Abendmahls wieder. Der tiefere Grund für diese Parallelität liegt darin, dass an die Stelle des alten Bundes mit dem Volk Israel ein neuer Bund mit einem anderen Bundesvolk getreten ist. Insbesondere der Hebräerbrief stellt heraus, dass nicht mehr Israel, sondern die Gemeinde Gottes neuer Bundespartner ist. Menschen aus allen Nationen und Kulturen können nun zum Bundesvolk gehören. Nicht mehr die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe ist von Bedeutung, sondern die Zugehörigkeit zum Sohn Gottes ist das Kriterium. Jesus selbst fügt diejenigen, die die Versöhnung durch seinen Tod in Anspruch genommen habe, zu einem Volk zusammen, seinem neuen Bundesvolk. Und ihnen überträgt er die Aufgabe, diese gute Nachricht aller Weit zu überbringen und zur Versöhnung in Christus einzuladen. Und Petrus schreibt (1 Petr 2,9) über die Gemeinde "Ihr seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, Gottes eigenes Volk; deshalb sollt ihr die großen Taten dessen verkündigen, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht berufen hat." Keine Frage, der Auftrag, den das Volk Israel laut 2 Mose 19 hatte, ist auf die Gemeinde übergegangen. Die Gemeinde und das Abendmahl

Der Kreis schließt sich, wenn wir die Frage klären, wo und wann der neue Bund denn geschlossen worden ist. Bei welcher Gelegenheit hat Gott das Volk des Neuen Bundes denn ernannt? Die Antwort darauf fällt nach dem bisher Gesagten nicht mehr schwer: bei der Einsetzung des Abendmahls - genauer noch, als Jesus seinen Jüngern den Kelch mit dem Blut des neuen Bundes reicht. Mit der Formulierung "Blut des Bundes" begegnet uns wörtlich derselbe Begriff wie beim Bundesschluss am Sinai. Aber auch darüber hinaus gibt es manche Parallelen. Der Reinigung des Volkes durch die Brand- und Dankopfer entspricht beim Abendmahl die Gabe des Brotes. Es stellt Jesu Leib dar, das wie die Tieropfer beim ersten Bundesschluss die Schuld wegnimmt und die Menschen damit erst bundesfähig macht. Insofern gehören Brot und Wein selbstverständlich zusammen. Nur weil Jesus für seine jünger seinen Leib geopfert hat (Brot) können sie überhaupt als sein Volk für ihn brauchbar sein (Wein).

Die Einsetzung des Abendmahls ist also weit mehr als eine private Abschiedsfeier im Jüngerkreis und auch mehr als die seelsorgliche Vergewisserung des Heils. Es ist vielmehr ein heilsgeschichtlicher Meilenstein. ja man könnte zugespitzt sagen: Die Geburtsstunde der Gemeinde ist nicht die Ausgießung des Heiligen Geistes zu Pfingsten, sondern die Einsetzung des Abendmahls. Hier wird der Jüngerkreis zum neuen Bundesvolk bestellt. Pfingsten ist bereits die sich daraus ergebende Ausrüstung für die neue Aufgabe und das erste Offenbarwerden des neuen Bundes.

Vermutlich sind uns diese Gedanken gar nicht so fremd. Ich stelle aber fest, dass wir in der Praxis, wie wir das Abendmahl feiern, aus der Ellipse schlechtweg einen Kreis mit einem doppelten Mittelpunkt gemacht haben. Vielleicht sind wir an dieser Stelle auch als Christen einfach Kinder unserer Zeit. Meine Errettung, mein ewiges Leben, mein Seelenheil, das reicht mir eigentlich. Auf den Rest können wir durchaus verzichten. Aber Gott denkt offenkundig in ganz anderen .Kategorien. Er denkt von seinen Zielen, vom Bau des Reiches Gottes her. Und dazu braucht er Gemeinde, ein Volk, das er senden kann. Und wenn sein Reich in der neuen Welt voll- endet sein wird, wird Jesus das Abendmahl wieder mit seinen Jüngern feiern.

Folgerungen

mein Seelenheil, das reicht mir eigentlich. Auf den Rest können wir durchaus verzichten. Aber Gott denkt offenkundig in ganz anderen Kategorien. Er denkt von seinen Zielen, vom Bau des Reiches Gottes her. Und dazu braucht er Gemeinde, ein Volk, das er senden kann. Und wenn sein Reich in der neuen Welt vollendet sein wird, wird Jesus das Abendmahl wieder mit seinen Jüngern feiern. Folgerungen ist das alles denn überhaupt so wichtig? Müssen wir wirklich über das Abendmahl neu nachdenken? - Nun, mir geht es nicht um eine theologische Auseinandersetzung als solche, sondern um einen Impuls für unser geistliches Leben. Ich möchte Sehnsucht wecken, das Abendmahl in seiner neutestamentlichen Dimension neu zu entdecken. Ich möchte anregen, darüber nachzudenken, wie wir unsere Erlösung und unsere Sendung, unsere Berufung als Volk des neuen Bundes angemessen und inspirierend feiern können. Ich wünsche mir lebendige Feiern, die eine angemessene Alternative zum Ritual am Altar darstellen. ich könnte mir vorstellen, dass an vielen Stellen neue Modelle und Formen entwickelt werden, die diese Gedanken aufgreifen und umsetzen. Und ich hoffe, dass wir dadurch viele Anregungen bekommen, wie wir unsere Erlösung von der Schuld (Brot) und unsere Erlösung zur Sendung (Wein) feiern können. Ich träume von Festen, bei denen wir fröhlich, dankbar und voller Staunen Gottes Liebe und Erbarmen feiern, und von denen wir neu motiviert und gestärkt in unseren Alltag zurückkehren.

Wolfgang Kraska ist Pastor der Freien evangeischen Gemeinde Witten.