Landesverband Baden-Württemberg der Angehörigen psychisch Kranke e.V.

 

Psychotisch……

 

Was es heißt, schizophren zu sein

 

 

1. Können Sie sich vorstellen...

Können Sie sich vorstellen, dass Sie Stimmen hören, als ginge jemand neben Ihnen her, doch weit und breit ist niemand zu sehen? Stimmen von Menschen, die Sie belästigen, beschimpfen, zu unsinnigen Handlungen auf­fordern? Und die Sie verfolgen, denen Sie sich nicht entziehen können?

Oder:

Dass es Ihnen eines Tages zur absoluten Gewißheit wird, von Ihrem Nachbarn durch die Wand hindurch bestrahlt zu werden, so dass Sie sich in Ihrer Wohnung nicht mehr sicher fühlen, es dort nicht mehr aushalten und Tag und Nacht in der Stadt herumirren?

Oder:

Dass Sie sich nicht mehr auf die Straße trauen, weil Sie überzeugt sind, dass überall, wo zwei oder drei zusammenstehen, über Sie gesprochen wird, dass jeder, der Ihnen begegnet, Ihre Gedanken lesen kann und imstande ist, Sie denken und tun zu lassen, was er will?

Oder:

Dass Ihnen alles gleichgültig wird, was bis dahin für Sie und Ihr tägliches Leben von Bedeutung war? Dass der Wille nicht mehr da ist, morgens das Bett zu verlassen, sich auf den Weg zur Arbeit zu machen? Dass es Ihnen völlig egal- ist, ob Sie Ihren Arbeitsplatz deswegen verlieren werden? Dass Sie sich dabei mehr und mehr vernachlässigen, ohne es selber richtig wahrzu­nehmen?

Oder:

Dass Sie Ihre Möbel aus dem Fenster werfen, nachdem Sie in der Tagesschau die geheime, nur für Sie bestimmte Botschaft erhalten haben, dass der Weltuntergang unmittelbar bevorsteht? Dass die Polizei, über deren Ahnungslosigkeit Sie sich nur wundern können. Sie dann vor den Augen der Nachbarn abholt? Sie in die Psychiatrie bringt, wozu nach Ihrer Meinung überhaupt kein Grund besteht?

Kurz:

Was es für Sie bedeuten könnte, an Schizophrenie zu erkranken?

Vermutlich können Sie es sich nicht vorstellen. Warum sollte man sich damit auch befassen, wenn man nicht betroffen ist? Antwort: Weil es jeden treffen kann!

 

2. Weil es jeden treffen kann...

Psychische Störungen, wie sie für eine Schizophrenie kennzeichnend sind, treten häufiger auf, als allgemein vermutet wird. An ihnen leiden ebenso viele Menschen wie an der Zuckerkrankheit. Und treffen kann es jeden, so wie jeder Opfer eines Unfalls werden kann. Aber was sind „psychische Störungen"?

Gestört sind Funktionen des Gehirns, von denen es abhängt, wie wir uns, andere und unsere Umwelt wahrnehmen, mit welchen Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen wir darauf reagieren. Halluzinationen und Wahnvorstellungen, oft in der Form eines Verfolgungswahns, verstellen dann den Blick für die Wirklichkeit, lösen Angstzustände aus, führen zu Handlungen, die uns „verrückt" vorkommen, aus der Sicht des Kranken aber begründet und berechtigt sind.

Gestört sind auch der Wille und der Antrieb, die nötig sind, um sich den Anforderungen des Alltags zu stellen, mit ihnen auch die Fähigkeit, mit anderen Menschen so zu verkehren, wie es in der Familie, unter Bekannten, im Beruf üblich und notwendig ist. Die Kranken ziehen sich zurück, brechen Ausbildung oder Studium ab, nehmen - scheinbar - unbeteiligt in Kauf, wenn ihnen fristlos gekündigt wird. Sie nehmen am Leben der anderen nicht mehr teil, und lassen keinen mehr an ihrem eigenen Leben teilnehmen.

Sprache und Denken können zerfallen; sie verlieren ihren logischen Zusammenhang. Was man anderen mitteilen möchte, lässt sich nicht mehr in klaren, für andere verständlichen Sätzen ausdrücken. Die Gedanken lassen sich nicht mehr festhalten, nicht mehr ausrichten, um eine Aufgabe zu lösen; sie jagen sich. Was im Kopf vor sich geht, hat keinen erkennbaren Sinn mehr.

Menschen, die an solchen Störungen leiden, wurden früher als „geisteskrank" betrachtet. Das ist jedoch falsch. Psychische Störungen beeinträchtigen im allgemeinen nicht die intellektuellen Fähigkeiten. Wer krank ist, macht davon allerdings seinen eigenen für uns oft unverständlichen Gebrauch, weil er sich in einer anderen Welt zurechtfinden muss als wir. Vergessen wir auch nicht: Intelligenz und „geistige Gesundheit" bieten auch keine Gewähr dafür, dass wir nur tun, was vernünftig ist!

Psychische Erkrankungen, besonders wenn sie in der Form schizophrener Störungen auftreten, verändern jeden, den es trifft. Auch unsere nächsten Angehörigen können uns sehr fremd werden. Wir bemühen uns zu ver­stehen, aber der Kranke verschließt sich. Wie kann man damit leben?

 

3. Wie damit leben...

Die Schizophrenie gehört zu den Krankheiten, die meistens in Schüben auf­treten. Phasen, in denen Symptome wie Halluzinationen und Wahn­vorstellungen das Krankheitsbild beherrschen, wechseln ab mit Zeiten, in denen der Kranke „nur" daran leidet, dass er sich zu nichts aufraffen kann, kaum über den Tag hinaus zu planen vermag, sich nicht auf eine Aufgabe, eine Arbeit konzentrieren kann und rasch erschöpft ist, wenn er es versucht. Die psychotischen Phasen, die von Zuständen schwerer Angst und Erregung, auch von Gewaltbereitschaft begleitet sein können, lassen sich jedoch mit Medikamenten gut behandeln, am besten in einer psychiatrischen Fachklinik. Zur Tragik des Krankheitsgeschehens gehört jedoch oft, dass sich der Kranke selbst gar nicht als krank erlebt, ärztliche Behandlungen für über­flüssig hält und schließlich gegen seinen Willen in die Psychiatrie eingewiesen werden muss.

In den Zeiten zwischen den psychotischen Episoden hat es der Kranke nur scheinbar leichter. Um Rückfällen vorzubeugen, ist es geboten, die ärztliche Behandlung fortzusetzen. Sehr häufig wird sie aber abgebrochen. Die Medikamente werden vorzeitig abgesetzt, weil die Nebenwirkungen nicht mehr ertragen werden, oder weil der Kranke die ihm gestellte Diagnose „schizophren" nicht annehmen kann. Oder er hält sich für gesund und meint, Medikamente seien nicht mehr nötig. Stellt sich dann ein Rückfall ein, kann ihn das in eine tiefe Mutlosigkeit versetzen, in eine depressive Stimmung, die ihn eines Tages zu dem Entschluss führt, auch das Leben selbst vor der Zeit zu beenden.

Dabei gilt keineswegs die Regel: „Einmal schizophren, immer schizophren"! Im Gegenteil: In den meisten Fällen kommt es im Verlauf einiger Jahre nur zu einer begrenzten Zahl psychotischer Schübe, nur bei einem Drittel der Betroffenen nimmt die Krankheit einen chronischen Verlauf. Das zu wissen hilft aber nicht viel. Denn niemand ist derzeit imstande, einem jungen Mann, der mit 25 Jahren erstmals erkrankt, zu sagen, wie seine Krankheit weiter verlaufen wird.

 

Auf welche Ursachen schizophrene Erkrankungen zurückgehen, ist bis heute nicht bekannt. Bekannt ist, dass Symptome wie Halluzinationen und Wahn mit bestimmten neurophysiologischen Prozessen im Gehirn einher gehen. Auf diese kann man heute mit Psychopharmaka Einfluss nehmen. Das ist für die Kranken von unschätzbarem Wert. Noch vor einer Generation wusste man sich nicht anders zu helfen, als die Kranken in abgelegenen Anstalten jahrelang „in Verwahrung" zu nehmen. Seit eine wirksame Behandlung mit Medikamenten möglich geworden ist, hat sich die Verweildauer in den Fachkliniken auf wenige Wochen verkürzt. Sind die Symptome der akuten Psychose abgeklungen, ist die Krankheit zwar nicht geheilt. Der Kranke kann aber wieder dort leben, wo er zu Hause ist, und oft auch seine frühere Arbeit wieder aufnehmen, sein Studium fortsetzen.

Ist das richtig? Liest man nicht immer wieder in der Zeitung von Vorfällen, bei denen andere angegriffen, verletzt, manchmal sogar getötet wurden, nämlich von Menschen, die offenbar nicht ganz zurechnungsfähig waren und deshalb vom Gericht „in die Psychiatrie" eingewiesen wurden? Das kann nicht bestritten werden. Zu fragen ist aber, ob die Krankheit allein bereits die Erklärung für die Tat liefert, die begangen wurde. Oft ist das nur die halbe Wahrheit, denn zur vollen Wahrheit gehört häufig, dass es an der gebotenen ärztlichen Betreuung gefehlt hat.

Dass psychisch Kranke und besonders schizophren Erkrankte an sich „gemeingefährlich" wären und dass man die Gesellschaft vor ihnen schützen müsse, ist eine Vorstellung, die nicht begründet ist. Dass Menschen, die in unseren Augen „normal" sind, Straftaten begehen, lässt uns auch nicht folgern, nur von Leuten umgeben zu sein, von denen wir erwarten müssten, dass sie aus Habgier, aus Rachsucht, aus welchen Gründen auch immer, jederzeit über uns herfallen könnten. So sollten wir auch Menschen, die als psychisch Kranke unter uns leben, nicht für bedrohlich halten, nur weil sie anders sind als wir.

4. Anders als wir...

Vielleicht haben Sie das schon erlebt, vielleicht erleben Sie es noch, dass sich Ihr Nachbar, ein freundlicher junger Mann, mit dem Sie jederzeit ein paar Worte auf der Treppe wechseln konnten, eines Tages verändert. Er wird zurückhaltend, fast abweisend, lässt sich nicht mehr ins Gespräch ziehen. Er weicht Ihrem Blick aus, drückt sich an Ihnen vorbei, und Sie fragen sich: Was hab' ich dem denn getan? Sein Verhalten befremdet Sie, und Sie stellen fest, dass er sich mehr und mehr vernachlässigt, offenbar auch nicht mehr zur Arbeit geht, nicht aus seiner Wohnung herauskommt. Dann ist er fort, und Sie hören von anderen: Den hat man in die Psychiatrie gebracht.

Wie gehen Sie damit um, wenn er, der nette, junge Mann, nach zwei, drei Monaten wieder zurückkehrt? So tun, als sei nichts gewesen, als wisse man von nichts? Locker oder ängstlich gespannt, was wohl als Nächstes passiert? Man weiß doch, man liest doch immer wieder...

Die Schizophrenie ist eine jener Krankheiten, über die man nicht offen zu sprechen wagt, schon gar nicht mit dem Kranken selbst. Als sei sie an­steckend, eine Schande, ein Todesurteil. Sie ist nichts von alledem, und Sie müssen keinen Bogen um den Kranken machen.

Doch erwarten Sie von dem Kranken nicht, dass er bereit sei, mit Ihnen lang und breit über seine Krankheit zu reden und Ihnen womöglich das Leben „in der Psychiatrie" zu schildern. Aber lassen Sie ihn spüren, das Sie ihn -wissend, dass er krank ist - nicht als jemand betrachten, der gar nicht mehr zum Haus gehört, nur weil er einmal in einer psychiatrischen Klinik war. Warten Sie auf der Treppe nicht auf seinen Gruß. Sagen Sie als erster: „Hallo!" Und vielleicht auch: „Ich freue mich, dass Sie wieder da sind!"

Wissen sollten Sie aber auch, dass er vor einem Rückfall, vor einem erneu­ten psychotischen Schub nicht sicher ist. Dessen Anzeichen werden Ihnen nicht entgehen. Es wäre zu schön, wenn der Kranke selbst Sie bitten würde, auf ihn Acht zu geben, für ärztliche Hilfe zu sorgen, wenn erkennbar wird, dass er diese braucht. Denn, dass er das selber früh genug erkennt und sich auf den Weg zum Arzt begibt, ist nicht gewiss. Sie können und sollten ihm Ihre Hilfe freilich auch nicht aufdrängen. Wenn Sie den Eindruck haben, dass sich jemand, der fachlich kompetent ist, um ihn kümmern sollte, so können Sie sich z.B. an den Sozialpsychiatrischen Dienst oder auch an das Gesundheitsamt wenden, anrufen und sagen: „Ich glaube, es sollte mal jemand nach Herrn X schauen!" Sie begehen keinen „Verrat", wenn Sie sagen, was Ihnen aufgefallen ist und warum Sie sich Sorgen machen. Denn das ist vielleicht die erste und deshalb wichtigste Hilfe, die Ihr kranker Nachbar dann benötigt.

Es kann uns im Leben vieles widerfahren, was uns so hilfsbedürftig werden lässt, wie wir es uns nie hätten träumen lassen. So z.B., weil wir psychisch erkranken. Dann ist es gut, einen Nachbarn zu haben, der Verständnis dafür aufbringt, dass wir „anders" geworden sind, nicht um Hilfe bitten können, aber sehr auf Hilfe angewiesen sind.