Pastor Kart-HeInz Espey

Wenn Christen in der Ehe scheitern

Überlegungen zum Umgang mit Ehescheidung und Wiederheirat Geschiedener

Katrin und Frank sind seit 18 Jahren verheiratet. Sie haben zwei Kinder im Alter von 16 und 12 Jahren. Frank hat einen sicheren Arbeitsplatz in einem mittleren Unternehmen. Katrin arbeitet als Aushilfe in einer Arztpraxis und versorgt ansonsten die Kinder und den Haushalt. In ihrer Freizeit gehen sie gemeinsamen Interessen nach und pflegen viele Kontakte. Beide arbeiten ehrenamtlich in ihrer Gemeinde mit.

Über viele Jahre lebten Katrin und Frank glücklich zusammen, harmonisch vereint. Bei ihren Freunden und Bekannten galten sie als Musterpaar.

Keiner wäre je auf die Idee gekommen, daß es in ihrer Ehe kriselt, geschweige denn, daß sie irgendwann auseinandergehen könnten. - Bis Frank vor zwei Monaten aus der gemeinsamen Wohnung auszog und damit einen vorläufigen Schlußpunkt hinter ihre Phase zunehmender Entfremdung und Gleichgültigkeit setzte. Zwar hatten beide darunter gelitten, waren aber offenbar unfähig und zuletzt auch nicht mehr bereit, zur ursprünglichen Innigkeit und Harmonie zurückzufinden. Wenn sich nichts Gravierendes ändert, werden Katrin und Frank in einem Jahr geschiedene Leute sein.


Auch christliche Ehen zerbrechen

Eine fast alltägliche Geschichte. Seit langem haben wir uns daran gewöhnt, daß Ehen in die Brüche gehen, auch in christlichen Gemeinden. Die inneren und äußeren Gründe dafür sind vielfältig, und es wäre einiges dazu zu sagen: etwa über den allgemeinen Wandel in den Lebensformen, ein verändertes Beziehungs- und Rollenverständnis von Frauen und Männern oder über den Wandel des Familienbildes und andere Faktoren, die das Miteinander von Mann und Frau beeinflussen und viele Ehen zum Scheitern bringen.

Wie gehen wir mit diesem Phänomen um? Was sagen wir, und wie verhalten wir uns, wenn die Ehe zweier Christen zerbricht? Wie halten wir's mit Geschiedenen, die erneut heiraten wollen? Fakt ist, daß die Wiederheiratungsquote beachtlich ist: sie liegt bei sechsundsechzig Prozent. Zwei Drittel der Geschiedenen heiraten also wieder, meistens einen anderen Partner. Demnach besteht auch in christlichen Gemeinden ein hoher Klärungs- und Regelungsbedarf, vor den sich Betroffene und Verantwortliche zum einen grundsätzlich, zum anderen aber von Fall zu Fall immer wieder neu gestellt sehen.

Frühere Generationen verwiesen auf die Aussagen der Bibel, etwa auf das bekannte Jesuswort "Wer sich von seiner Frau trennt und eine andere heiratet, begeht Ehebruch. Und wer eine Geschiedene heiratet, wird zum Ehebrecher" (Luk. 16, 18). Oder man zitierte den Apostel Paulus: "Eine Frau darf sich von ihrem Mann nicht trennen. Hat sie sich von ihrem Mann getrennt, so soll sie unverheiratet bleiben oder sich wieder mit ihrem Mann aussöhnen. Ebensowenig darf ein Mann seine Frau fortschicken" (l. Kor. 7, 1 ff.).


Keine Wiederheirat!?

Diese und andere Aussagen der Bibel zu der Thematik weisen auf den ersten Blick in eine eindeutige Richtung: Nicht scheiden, und wenn geschieden, auf keinen Fall erneut heiraten! Sie erzeugen in der konkreten Konfliktsituation enorme Spannungen; denn die Situation der Betroffenen weicht davon häufig ab: Sie scheitern in ihrer Ehe, lassen sich scheiden und wünschen sich einen neuen Partner. Diese Spannung ist nicht aufzuheben. Sie muß durchgehalten werden, ohne dabei biblische Maßstäbe aufzugeben oder die Betroffenen mit buchstabengetreuer gesetzlicher Strenge zurückzuweisen.

Während ich diesen Artikel zu Papier brachte, rief mich eine Frau an, völlig außer sich und ratlos. Seit zwei Jahren von ihrem Ehemann geschieden, hatte sie seit ein paar Wochen eine Liebesbeziehung zu einem geschiedenen Mann aufgenommen. Die beiden wollten so bald wie möglich heiraten. Ein Gespräch mit den Verantwortlichen ihrer Gemeinde hatte sie völlig aus der Fassung gebracht. Man hatte sie aufgefordert, ihre Beziehung zu beenden und Konsequenzen angekündigt, falls sie zusammenblieben. Mit dieser rigorosen Vorgabe kamen beide nicht klar. Sie standen unter einem enormen Druck und suchten den seelsorgerlichen Rat.


Schon die Rabbinen hatten ein Ehescheidungsproblem

Dies bezog sich auf Moses Scheidungsregel (5. Mose 24,1): -.. ein Mann heiratet und findet dann etwas an der Frau, das ihm zuwider ist, stellt ihr eine Scheidungsurkunde aus und schickt sie weg." Die Konservativen verstanden die Redewendung "das ihm zuwider ist streng moralisch als Unzucht, während die Liberalen sie in alle möglichen Richtungen ausdehnten: Ließ die Frau die Suppe anbrennen, hatte sie Mund- oder Körpergeruch, hatte sie nicht genügend Kinder geboren, oder war sie mittlerweile häßlich geworden, was immer der Mann an ihr fand, das ihm nicht gefiel, er durfte sie entlassen. Will man diese menschenverachtende Scheidungspraxis verstehen, muß man sich das Rechtsempfinden jener Zeit bewußtmachen: Die Frau galt als Besitz des Mannes. Wenn er ihr einen Scheidebrief ausstellte, trennte er sich lediglich von einem Besitz, so wie man heute Altkleider in einen Plastiksack steckt und einen Zettel daran bindet "Zur Abholung für diese oder jene Organisation". Männer hatten dieses Dokument nicht nötig. Sie konnten sich beliebig oft verheiraten.

Ein Scheidebrief hatte etwa folgenden Wortlaut: "An dem und dem Tag und an dem und dem Ort habe ich aus freiem Entschluß und aus freiem Willen und ohne jeden Zwang dich verabschiedet, entlassen und verstoßen, dich, die du vordem mein Weib gewesen bist. Und jetzt verstoße ich dich, so daß du frei und dein selbst mächtig bist zu gehen, um dich zu verheiraten an jeden beliebigen Mann, und niemand soll es dir wehren von diesem Tage an bis in die Ewigkeit. Siehe, du bist erlaubt jedermann, und dies soll dir meinerseits sein das Schriftstück der Verstoßung und das Dokument der Scheidung und der Brief der Entlassung nach dem Gesetz Moses und Israels" (Strack-Billerbeck 1, 31 ff.).

Bei Licht besehen, war der Scheidebrief, so wie er zur Zeit Jesu eingesetzt wurde, nichts weiter als ein Mittel, mit dem ein Mann seine Frau bequem loswerden konnte. Damit wurde die eigentliche Absicht des Scheidebriefes umgekehrt: Sollte er ursprünglich die Frau gegen die männliche Willkür schützen, wurde er zum Instrument egoistischer Motive. Von einem Rabbi wird berichtet, daß er hundert Ehefrauen gehabt hat. Natürlich nicht zur gleichen Zeit, das wäre gegen die Ordnung, aber eine nach der anderen. Der Scheidebrief legitimierte sein Verhalten.


Jesu Wort an die Männer seiner Zeit

"So geht's nicht!" erklärt Jesus. "Ich sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet und heiratet eine andere, der bricht die Ehe« (Matth. 19, 9). Bleibt mit euren Frauen zusammen, anstatt sie wie eine Ware euch vom Hals zu schaffen, auch wenn euch irgend etwas an ihnen nicht gefällt! Übernehmt Verantwortung für sie, sorgt für sie! Das Wort Jesu an die Männer seiner Zeit ist ein Bußruf Hier werden egoistisch agierende Männer aufgefordert, die Ehe ernst zu nehmen und an ihren Frauen festzuhalten.

Mit anderen Worten heißt das: Dieses Jesuswort aus Matthäus 19 ist kein Gesetz, das Scheidung grundsätzlich verbietet, sondern ein Ruf zur Umkehr für Menschen, die Gottes gute Ordnung verlassen haben. Hier werden ehebruchsüchtige Männer aufgefordert, die göttliche Eheordnung heilig zu halten; mit einer Ausnahme, daß die Frau ihrerseits die Ehe gebrochen hat. Das heißt: Außerehelicher Geschlechtsverkehr der Frau ist genauso Ehebruch wie die Verstoßung der Frau, um eine andere zu heiraten. Jesus sorgte sich also nicht nur um die recht- und schutzlosen Frauen, sondern auch um die Männer, die sein Nein ernst nehmen und die Scheidung nicht wagen. Ihnen sagt er: Die Unzucht eurer Frauen ist die Scheidung selbst. Der Mann, der sich daraufhin von seiner Frau trennt, vollzieht lediglich das nach, was sie durch ihren Ehebruch bereits vollzog.

Was bedeutet dieses Wort für Eheleute, deren Beziehung zerrüttet oder zerstört ist, bei denen weder die leichtfertige Scheidungspraxis der Männer zur Zeit Jesu noch eine außereheliche Beziehung der Frau vorliegt, sondern nichts als Zerrüttung?


Seelsorge angesichts zerrütteter Ehen

In der Eheberatung erlebe ich es immer wieder, daß zwei Menschen, die früher einmal in Liebe vereint waren, sich meilenweit auseinandergelebt haben. Vorausgegangen sind Entfremdung, Streitereien, Sticheleien, Machtkämpfe, oft bis hin zu seelischer und körperlicher Gewalt. Da ist im Laufe der Zeit so viel Porzellan zerschlagen worden, daß nichts mehr zu kitten ist. Als Seelsorger, der mit der Absicht an die Arbeit geht, Ehen zu retten, stehe ich in solchen Situationen ohnmächtig und mit leeren Händen da. - Was ist da noch zu tun? Wie können wir mit solchen Menschen umgehen? Müssen wir darauf bestehen, daß sie sich versöhnen und zusammenbleiben, getreu dem Jesuswort: "Nicht scheiden!"? Diese Vorgehensweise könnte ich nicht bejahen. Außerdem: Was würde es einem derartig zerrütteten Ehepaar nützen, wenn ich ihm in seiner ohnehin schory

bedrückenden Situation noch mehr Druck machte, indem ich es aufs Zusammenbleiben verpflichten wollte? Rein gar nichts! Statt dessen würde ich die beiden ermutigen wollen, in Würde und gegenseitigem Respekt auseinanderzugehen und die damit verbundenen Formalitäten und Entscheidungen, nicht zuletzt um vorhandener Kinder willen, möglichst einvernehmlich abzuwickeln.


Berufen zu einem Leben in Frieden

Zweifellos würde ich mit dieser Vorgehensweise den Widerstand all jener Christen riskieren, die die Ausnahmeklausel Jesu" Ausgenommen, daß die Frau ihrerseits die Ehe gebrochen haC formalrechtlich verstehen und dementsprechend nur diesen Scheidungsgrund gelten lassen. Sie würde ich auf den Apostel Paulus hinweisen, der in 1. Kor. 7, 15 schreibt: "Wenn aber der ungläubige Teil auf der Trennung besteht, dann gebt ihn frei. In diesem Fall ist der christliche Teil, Mann oder Frau, nicht an die Ehe gebunden. Gott hat euch zu einem Leben in Frieden berufen." Wie kommt Paulus dazu, neben Jesu Ausnahmeklausel einen zweiten Scheidungsgrund zu setzen? Hatte das unter Umständen mit einer besonderen apostolischen Vollmacht zu tun?

Mir scheint folgende Erklärung eines Auslegers plausibel zu sein: jaulus hat das Jesuswort als Zerrüttungsklausel verstanden, die er nun in andere Zerrüttungen übertragen darf So nennt er im Gefolge Jesu ein weiteres Beispiel einer zerstörten Ehe, nämlich den heidnischen Antiwillen, der dem christlichen Partner die Ehegemeinschaft aufkündigt... Beide Male - sowohl in Matth. 19 als auch in 1. Kor. 7 - regiert also der seelsorgerliche Gesichtspunkt das Wort der Schrift, das Menschen in Gewissensnot einen Ausgang aus einer zerrütteten Ehe zugesteht bei gleichzeitiger Ehrung des Hauptwortes Jesu: ,Nicht scheiden'!" (A. Jung).


Scheidung ist nicht gleich Scheidung

Was bedeutet nun dieser Gedankengang für die Frage nach der Wiederheirat Geschiedener? Aus dem bisher Gesagten geht in. E. deutlich hervor, daß Scheidung nicht gleich Scheidung ist. Wenn Jesus in Ausnahmefällen Eheleuten zugesteht auseinanderzugehen, ist das nicht zu vergleichen mit der leichtfertigen Scheidungspraxis der Rabbinen. Ob wegen versalzener Suppe oder anderer Unliebsamkeiten geschieden wird, um sich ganz schnell die nächste Frau ins Haus holen zu können, oder weil die Beziehung zerrüttet ist, dazwischen liegen Welten.

Insofern ist auch Wiederheirat nicht gleich Wiederheirat. Denn das ist ja wohl ein eklatanter Unterschied, ob einer aus egoistischen Motiven von einer Ehe in die andere stolpert, oder ob zuvor eine beim besten Willen nicht mehr zu heilende Ehe beendet wurde. Und diesen Unterschied macht ja auch Jesus: an die leichtfertigen, eigensüchtigen Scheidungspraktiken knüpft er ein Wiederverheiratungsverbot, während er im Falle der Zerrüttung kein Wiederverheiratungsverbot ausspricht. Deshalb möchte ich in der konkreten seelsorgerlichen Situation zunächst die Frage offen lassen, ob ich eine Wiederheirat für möglich halte oder nicht.


Mit Eheproblemen allein gelassen

An dieser Stelle blende ich noch einmal zurück zu der Anruferin, von der ich anfangs sprach. Ihre und die Frage ihres Partners war: "Müssen wir auseinandergehen, will die Bibel eine Wiederheirat Geschiedener grundsätzlich verbietet, oder gibt es für uns eine Chance zusammenzubleiben?"

Jeder, der in seiner Gemeinde oder auch darüber hinaus seelsorgerlich tätig ist, wird irgendwann mit dieser oder einer ähnlich formulierten Frage konfrontiert. Und ich weiß, daß darüber die Meinungen im christlichen Lager weit auseinandergehen, so daß Betroffene durchaus in große innere, manchmal auch äußere Bedrängnis geraten; dann nämlich, wenn sich die Mitchristen zu Richtern erheben, sie als Sünder brandmarken und somit ausgrenzen. Da können Betroffene sehr einsam werden und das in einer Situation, in der sie gerade wieder dabei sind, Boden unter die Füße zu bekommen, der ihnen bei ihrer Scheidung weggezogen worden ist.


Eigene Schuld erkennen

Ich plädiere für eine ergebnisoffene Eheseelsorge, für eine Offenheit, die mich befähigt, die konkrete Situation aufzunehmen und zu erfassen, ohne gleich die fertige Antwort in der Hinterhand zu haben. Konkret bedeutet das: Ich kann nicht von vornherein sagen, zu welchem Ergebnis ich im Gespräch mit Betroffenen komme. Ob ich ihnen guten Gewissens grünes Licht für eine Wiederheirat geben kann, ob ich ihnen empfehle, noch eine gewisse Zeit zu warten, oder ob ich dafür Plädiere, daß sie auf eine Wiederheirat verzichten. Das hängt davon ab, wieweit sie all das, was in ihrer ersten Ehe falsch gelaufen ist, erkannt haben - und dazu gehört vor allen Dingen die Erkenntnis der eigenen Schuld - und Schuld vergeben ist. Ferner ist es davon abhängig, wieweit sie an sich arbeiten, um in ihrer zweiten Beziehung möglichst nicht an exakt denselben Punkten zu scheitern wie in ihrer

 

ersten, sondern die Chance erhalten, ein bis dahin vielleicht nicht gekanntes Eheglück zu erleben. Diese Prozesse brauchen Zeit, viel Zeit. Deshalb plädiere ich grundsätzlich dafür, daß niemand von einer Beziehung in eine andere hineingeht, sondern einen genügend großen Zeitraum ohne Partner bleibt, damit die notwendigen Abnabelungs-, Selbsterkenntnis- und Veränderungsprozesse vollzogen werden können. Dafür sind in der Regel zwei bis drei Jahre nicht zu viel! Auch Paulus läßt in 1. Kor. 7 offen, wie es mit Geschiedenen weitergehen soll, denn er schreibt:"ln den Frieden hinein hat euch Gott berufen." A. Schlatter sagt dazu: "Paulus spricht nicht davon, wie der christliche Gatte, wenn er seine frühere Ehe auflösen muß, seine Verhältnisse zu ordnen hat: Ob er nun berechtigt ist, die alte Ehe als völlig vergangen anzusehen und in eine neue zu treten, oder ob es auch für ihn gilt, daß er, solange der frühere Gatte lebt, unverheiratet bleiben soll. Zum raschen, voreiligen Eingehen einer neuen Ehe, ehe das Ende des alten Verhältnisses endgültig feststand, riet er sicher niemand" (Erläuterungen zum Neuen Testament, S. 88).


An Fehlern wachsen

Eine ergebnisoffene Eheseelsorge ist eine Seelsorge, die Betroffenen den Weg weist, der in den Frieden hineinführt. Frieden breitet sich aus, wenn mein Leben mit dem übereinstimmt, was Gott für mich will. Deshalb sind für Leute, die nach einer Scheidung ein zweites Mal heiraten wollen, sehr wohl die etwas altmodisch anmutenden Fragen von Belang: Habe ich darüber inneren Frieden? Ist es richtig, daß ich mich erneut an einen Partner binde und mit ihm die Ehe wage? Ist diese neue Partnerin, dieser neue Partner passend? Diese Fragen sind keineswegs auf die Schnelle und schon gar nicht durch die Verliebtheitsbrille hindurch zu beantworten. Hier stehen die Betroffenen letztlich allein vor Gott und werden, wenn sie ehrlich sind, spüren, ob ihre Entscheidung in den Frieden hineinführt oder nicht.


Jede Sünde wiegt schwer

Die Reaktionen, die Betroffene ernten, nachdem sie sich für eine Wiederheirat entschieden haben, gehören nicht gerade zu den Ruhmesblättern der Christenheit. Viele Christen scheinen die Scheidung in ihrer Phantasie mit Unmoral gleichzusetzen. Dementsprechend sind Geschiedene Christen zweiter Klasse und - wenn sie sich obendrein wiederverheiraten - nicht mehr gemeinschaftsfähig. In vielen Gemeinden scheint die Scheidungs- und Wiederverheiratungsproblematik immer noch mit sexuellen Verfehlungen gleichgesetzt zu werden, und die gehören in weiten Teilen der evangelikalen Christenheit zu den schändlichsten aller Sünden. Große Sünden müssen besonders konsequent geahndet werden. Deshalb tritt man mit rigoroser Gemeindezucht auf den Plan, so wie im Falle jener Anruferin. Sie fühlte sich von den Verantwortlichen ihrer Gemeinde unter einen unerträglichen Druck gesetzt, so daß sie nicht mehr ein noch aus wußte. Ich kann verstehen, daß viele Christen angesichts eines solchen Rigorismus mit ihren EheProblemen allein bleiben; daß sie sich oftmals jahrelang damit herumquälen aus Angst vor Sanktionen und negativer Etikettierung durch die Mitchristen, mit denen sie Sonntag für Sonntag die Kirchenbank teilen, Gott loben, sein Wort hören und als Gemeinschaft der begnadigten Sünder das Abendmahl feiern.

Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, wir neigen dazu, Sünden in groß und klein, schwer und leicht aufzuteilen, während ich in der Bibel entdecke, daß jegliche Sünde unendlich schwer wiegt. Jede Sünde bedeutet Trennung: Trennung von Gott und oft auch Trennung von den Menschen. Und wo Trennung geschieht, da ist das Leben beschädigt, wenn nicht sogar gefährdet und bedarf immer der großen Barmherzigkeit Gottes. Er stellt die gestörte Gemeinschaft wieder her und sorgt dafür, daß wir trotz unserer Schuld leben können. Wenn wir begreifen, daß alle Schuld vor Gott gleich schwer wiegt, müßten sich Geschiedene nicht länger als die Unmoralischen und übelsten aller Sünder fühlen, zumal die meisten Ehen ja gar nicht aufgrund einer unbefriedigenden oder krankhaften Sexualität scheitern. Meistens liegen die Scheidungsgründe ganz woanders: in unüberbrückbaren Wesensunterschieden, Gleichgültigkeit, Entfremdung, Enttäuschungen, Machtkämpfen, Verletzungen, um nur einige wenige Stichworte zu nennen. Und oft ist der sexuelle Ehebruch erst die Folge jener anderen Brüche und Verletzungen, die sich Mann und Frau gegenseitig zugefügt haben.


Angewiesen auf Gottes Barmherzigkeit

Aber wie nun umgehen mit Menschen, die in ihrer Ehe gescheitert sind und an Wiederheirat denken bzw. sich bereits zu diesem Schritt entschieden haben? Ich möchte ihnen barmherzig, offen und zugewandt begegnen. Wer sich selbst als Sünder begreift und sich bewußt ist, daß auch er auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen ist, kann nicht hartherzig sein. Jesus konfrontierte die Hartherzigen, die sich damals für moralische Sauberkeit und Ordnung verantwortlich fühlten und mit der Härte des Gesetzes gegen Sünder vorgingen, mit dem Wort: "Wer von euch noch nie eine Sünde begangen hat, soll den ersten Stein auf sie werfen« (Joh. 8, 7). Ich wünsche mir, daß wir immer fähiger werden, Seelsorge als einen Akt der Barmherzigkeit zu verstehen, in dem wir die Sünde zwar benennen, aber sie mitsamt dem Sünder der vergehenden Gnade Gottes anbefehlen, so daß auch die Christen, die in ihrer Ehe gescheitert sind, sich nicht länger von Vergebung und Neuanfang ausgeschlossen fühlen müssen.

Dieser Artikel erschien in "Sexuatethik und Seelsorge", der Vorgängerin von "Weisses Kreuz". Die Zeitschrift für Lebensfragen erscheint viermal im Jahr.
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