Psalm 72 Predigt, Bibelarbeit

Gott, gib dein Gericht

dem König!

Predigt aus Psalm 72

im Gottesdienst

am 5. Januar 2003

Pfr. Dr. Bernhard Rothen

Lesung : Matthäus 2, 1 - 11

VON SALOMO.

Gott, gib dein Gericht dem König und deine Gerechtigkeit dem Königssohn,

daß er dein Volk richte mit Gerechtigkeit und deine Elenden rette.

Laß die Berge Frieden bringen für das Volk und die Hügel Gerechtigkeit.

Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen

und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen.

Er soll leben, solange die Sonne scheint und solange der Mond währt,

von Geschlecht zu Geschlecht.

Er soll herabfahren wie der Regen auf die Aue, wie die Tropfen, die das Land feuchten.

Zu seinen Zeiten soll blühen die Gerechtigkeit und großer Friede sein,

bis der Mond nicht mehr ist.

Er soll herrschen von einem Meer bis ans andere,

und von dem Strom bis zu den Enden der Erde.

Vor ihm sollen sich neigen die Söhne der Wüste, und seine Feinde sollen Staub lecken.

Die Könige von Tarsis und auf den Inseln sollen Geschenke bringen,

die Könige aus Saba und Scheba sollen Gaben senden.

Alle Könige sollen vor ihm niederfallen und alle Völker ihm dienen.

Denn er wird den Armen erretten, der um Hilfe schreit, und den Elenden, der keinen Helfer hat.

Er wird gnädig sein den Geringen und Armen, und den Armen wird er helfen.

Er wird sie aus Bedrückung und Frevel erlösen, und ihr Blut ist wert geachtet vor ihm.

Er soll leben, und man soll ihm geben vom Gold aus Saba.

Man soll immerdar für ihn beten und ihn täglich segnen.

Voll stehe das Getreide im Land bis oben auf den Bergen;

wie am Libanon rausche seine Frucht.

In den Städten sollen sie grünen wie das Gras auf Erden.

Sein Name bleibe ewiglich; solange die Sonne währt, blühe sein Name.

Und durch ihn sollen gesegnet sein alle Völker, und sie werden ihn preisen.

Gelobt sei Gott der HERR, der Gott Israels, der allein Wunder tut!

Gelobt sei sein herrlicher Name ewiglich, und alle Lande sollen seiner Ehre voll werden!

Amen! Amen!

ZU ENDE SIND DIE GEBETE DAVIDS, DES SOHNES ISAIS.

I

Liebe Gemeinde!

Zu allen Zeiten haben sich die Menschen möglichst Gutes erhofft; und zu allen Zeiten

wussten sie, dass bestimmte Menschen besonders wichtig für unser Wohlergehen sind.

Schnell einmal wollte man darum diese Oberen in einem möglichst hellen Licht sehen,

gut und fähig, mächtig und gerecht... und hat darum gerne den Mächtigen mit

übertriebenen Worten das Lob gesungen.

Auch der Psalm 72 könnte wie ein solches übertriebenes Herrscherlob klingen. Der

Psalm besingt einen König, der alle seine königlichen Pflichten untadelig erfüllt: Er

schützt die Armen vor Willkür, fern von aller Vetternwirtschaft und Klüngelei spricht er

allen ein gerechtes Urteil, ja, durch ihn leben nicht nur die Menschen wohl, auch die

Pflanzen und Tiere und das ganze Land blüht auf. Seine Herrschaft kommt darum an

kein Ende.

All das klingt viel zu schön, um wahr zu sein; es ist weit weg von der Realität, müssten

wir sagen – wenn nicht der Eine geboren wäre, von dem wir heute Morgen schon so viel

gesungen haben. „And his name was: Jesus“, singt der Gospel.

Für Jesus gilt all das, was der Psalm mit seinen jubelnden Worten sagt, und noch mehr!

Denn Jesus hat noch Grösseres getan, als der Psalm 72 von einem glücklichen König

erwartet. Von Jesus können wir mit vollem Recht sagen: Er wird leben, solange die

Sonne scheint. „Siehe, ich bin bei euch, alle Tage, bis zur Vollendung der Zeiten“, hat

er selber seinen Jüngern versprochen (Matthäus 28, 20). Er soll herrschen von einem

Meer bis ans andere, heisst es im Psalm. Er muss herrschen, bis Gott ihm auch den

letzten Feind unter die Füsse legt, schreibt der Apostel Paulus (1. Korinther 15, 25.26).

Dieser letzte Feind, der soviel Unrecht und Böses tut, ist der Tod. Auch den Tod muss

Jesus überwinden. Erst dann wird grosser Friede sein, erst dann wird der Mond über

keinen Tränen der Wehmut und des Liebesleides mehr glänzen. „Vor ihm sollen sich

neigen die Söhne der Wüste, sagt der Psalm.“ Es ist tatsächlich besonders ergreifend,

wenn wir die Geschichten hören, wie das Evangelium den Weg zu Menschen aus völlig

unzivilisierten Gebieten findet und diese Volksstämme sich vor Jesus beugen – so wie

es mit dem Stamm der Sawi, den Kannibalen und Kopfjägern in Neuguinea geschehen

ist, oder mit den Aucas im Dschungel Ecuadors.

Aber auch Könige bringen ihre Geschenke, sagt der Psalm. Unser Münster ist ein

solches königliches Geschenk an Jesus Christus. Draussen an der Fassade sehen wir

Kaiser Heinrich und seine Frau Kunigunde, Heinrich mit einem Model des Münsters in

der Hand. Er macht dieses Haus Christus zum Geschenk. Die ganze europäische Kultur

profitiert bis heute von solchen fürstlichen Gaben. „Durch ihn sollen gesegnet sein alle

Völker“, rühmt der Psalm. Tatsächlich: Jesus hat den Segen Abrahams zu den Völkern

gebracht. Jesus hat uns gelehrt, einander zu vergeben; er hat uns den Glauben

geschenkt, dass wir mit kindlichem Vertrauen beten können; er hat uns den Respekt vor

den Armen und Kranken ins Gewissen gelegt; er macht unsere Herzen unruhig, dass wir

die Hoffnung auf eine vollkommene Gerechtigkeit nicht fahren lassen. Überall auf dem

Erdkreis preisen ihn die Menschen, Hohe und Niedrige singen ihm das Lob. Kein

Anderer hat so viele Herzen gewonnen, hat so vielen Trost und Freude und Geduld

geschenkt!

II

Darum, liebe Gemeinde, beten wir umso inniger, was der Psalm mit seinen einleitenden

Worten als die eine, grosse Bitte ausspricht: „Gott, gib dein Gericht dem König! „

 

Jesus hat alle Macht im Himmel und auf Erden erhalten. Aber es ist nicht

selbstverständlich, dass er diese Macht auch in die Hand nimmt und ausübt. Es gibt

andere Mächte, die sich ins Leben drängen. Manches stellt sich quer und will die

Herrschaft Christi nicht akzeptieren. Noch ist der letzte Feind, der Tod, nicht

überwunden. Denn auch der vorletzte, noch viel grössere Feind, die Sünde, ist noch

nicht ausgerottet aus unseren Herzen und unserer Gemeinschaft.

Darum bitten wir intensiv um dieses Eine: „Gott, gib dein Gericht dem König!“ Gib,

Gott, die Macht Jesus in die Hand. Lass ihn das Urteil sprechen! –

Diese Bitte wird immer dann erhört und erfüllt, wenn Jesus das Wort bekommt, wenn er

sagen darf, was wir Menschen sind und gelten – und wenn Menschen dieses Wort hören

und sich nach ihm ausrichten. Jesus will nicht mit äusserer Zwangsgewalt herrschen. Er

will uns innerlich gewinnen, will uns überzeugen mit seinem Wort und seinem Geist.

Wenn er das aber tut, schafft er wirklich den Armen Recht und schenkt den Geringen

Ehre. Er lehrt uns – alle genau gleich – beten zum Vater im Himmel. Dadurch werden

wir alle hoch erhöht. Aber besonders die Kleinen und Demütigen wissen dieses

Vorrecht zu schätzen. Jesus lässt uns sagen, dass er uns lieb hat und wir ihm wertvoll

sind. So macht er uns frei, dass wir uns nicht nach dem Urteil der Menschen richten

müssen, dass es uns nicht kümmert, wenn man schlecht von uns redet: Wir hören, was

Jesus Gutes über uns sagt und können denken: Ich bin soviel wert, wie ich ihm wert bin.

Auch wenn viele mich verachten – Jesus spricht mich gerecht. – Aber auch dann noch

kann es wieder scheinen, als wären wir nichts wert und nicht geliebt. Wir werden

vielleicht krank. Plötzlich ist das Unglück da, und alles wird freudlos und schwer. Doch

auch in diesen Zeiten will Jesus unsere Herzen regieren. Er steht uns bei in den inneren

Kämpfen und schenkt uns schliesslich den Frieden, macht uns gewiss: alles muss zum

Guten dienen, denen, die Gott lieben (Römer 8, 28). Das ist die königliche Herrschaft

Christi, über die wir uns mit der ganzen Christenheit freuen!

III

Aber vielleicht fragen wir auch: Was hat diese Herrschaft Christi in den Herzen für

äussere Konsequenzen? Kann und soll sich etwas davon sichtbar und spürbar

etablieren?

Wenn wir so fragen, ist es erhellend, einen Blick zurück in unsere Geschichte zu werfen

und zu sehen, wie der Stifter unseres Münsters die Herrschaft Christi und seinen

eigenen Beitrag zu ihr verstanden hat. Die Kaiserkrone, mit der Heinrich II. sich krönen

liess, hat vier flache Platten, auf denen vier biblische Szenen dargestellt sind. Zum einen

– nahe liegend – die Könige David und Salomo, also die alttestamentlichen Herrscher,

die eine kurze Friedenszeit lang ihre Macht zum Wohl des Volkes entfalten konnten.

Die zwei anderen Platten aber stellen den Propheten Jesaja dar, der im Tempel den

Himmel offen stehen und Gott vom himmlischen Engellob umgeben sieht, und die

letzte, die vierte Platte, stellt überraschend den König Hiskia dar, der todkrank ist. Zu

ihm sagt der Prophet Jesaja mitten in seine Krankheit hinein das Wort Gottes: „Ich will

fünfzehn Jahre zu Deinem Leben hinzutun“ (Jesaja 38, 5; 2. Könige 20, 6). Fünfzehn

geschenkte Jahre!

Dass also sind die beiden Aspekte einer christlichen Weltherrschaft, die auf der

mittelalterlichen Kaiserkrone hervorgehoben werden. Zum einen: „Ihr seid das

königliche, priesterliche Geschlecht!, heisst es 1. Petrus 2,9. Im Glauben können wir

einstimmen in das Engellob, können beten und greifen so hinein in die göttliche

Weltherrschaft. Die Gebet der Gläubigen regieren mit Christus die Welt. Das andere

aber: wenn etwas von einer solchen christlichen Weltherrschaft auch mit äusserlichen

Macht zur Entfaltung kommen soll, ist das nur für eine begrenzte Zeit, für ein paar

geschenkte Jahre lang möglich. Fünfzehn Jahre waren es für König Hiskia, fünfzehn

Jahre, auf die er kein Recht hatte. Das ist im ergreifenden, wortwörtlichen Sinn das

Gottesgnadentum des mittelalterlichen Kaisers, dem wir unser Münster verdanken. Es

ist uns Menschen nur eine begrenzte Zeit zugemessen, in der wir durch Gottes Gnade

etwas Gutes aufrichten können – wenn uns das überhaupt geschenkt wird. Wenn aber

wirklich Christus uns in seinen Dienst nimmt für seine Herrschaft, ist das die Gnade

Gottes, dass er hilflosen Menschen eine Zeit zumisst, auf die sie keinen Anspruch

haben. Christus hat alle Macht. Aber es ist nicht selbstverständlich, dass er sie ausübt

und den Seinen Raum schafft und Möglichkeiten in die Hand gibt. Darum beten wir so

sehr: „Gott, gib dein Gericht dem König!“ Denn wenn wirklich Jesus sein Wort spricht

und uns königlich frei macht, dass wir uns nicht nach den Meinungen der Menschen

richten, sondern nach seinem Urteil, und wenn er darüber hinaus uns zusammenführt

und uns die äusseren Mittel schenkt, dass wir uns finden können zu einem gemeinsamen

Schaffen: dann ist das eine Gnadenzeit, fünfzehn oder zehn oder zwanzig Jahre, die uns

ohne alles Recht geschenkt sind.

Aus solchen Zeiten der Gnade aber nimmt die Herrschaft Christi ihren Weg hier in

dieser Welt. Eine Zeitspanne lang finden sich Menschen und dienen gemeinsam ihrem

König, Christus. So war es, als im Mittelalter Könige und Gelehrte, Künstler und

Fürsten sich fanden und die Grundlagen legten für das, was wir die christliche,

europäische Kultur nennen. So war es aber auch, als in der Reformationszeit breite

Schichten der Bevölkerung das Bibelwort neu gehört und sich innerlich aufgetan haben,

um eine neue Geisteskultur, eine persönliche, vertrauensvolle Gemeinschaft mit

Christus aufzubauen. So war es aber auch, als viele Gläubige sich nicht von einer

Staatskirche unterdrücken lassen wollten, als die Pilgerväter darum mit der Mayflower

über das weite Meer gesegelt sind und in einem neuen Kontinent neue Formen der

Glaubensgemeinschaft errichtet haben. So war es aber auch, als die Missions-

gesellschaften viele Menschen begeistern konnten für die Aufgabe, das Evangelium zu

den Söhnen der Wüste zu bringen, und als gleichzeitig andere sich auf den Weg

gemacht haben in die Slumquartiere der europäischen Städte, um dort den Ärmsten der

Armen handfeste Hilfe zu bringen und sie so unter den Schutz von Jesus Christus zu

stellen.

Und wir heute, liebe Gemeinde? Will und wird Christus auch uns eine Gnadenzeit

schenken? Wird er uns die äusseren Möglichkeiten und die innere Verbundenheit geben,

so dass wir eine Zeitspanne lang sein Reich ausbreiten und das tun können, was er zum

Schutz der Armen getan haben will? Aufgaben, neue Aufgaben gibt es auch bei uns

viele! Aber selber machen können wir nichts. Es muss uns geschenkt werden, äusserlich

und innerlich: fünfzehn oder zehn oder zwanzig aus Gnade uns zugemessene Jahre, in

denen Christus uns in seinen Dienst nimmt, so dass wir unseren Teil tun dürfen für sein

Reich.

Dass uns das geschenkt wird, darum können wir nur von ganzem Herzen beten: „Gott,

gib dein Gericht dem König, und deine Gerechtigkeit dem Königssohn!“ Lass uns, Gott,

das Urteil aus dem Mund Christi hören und sammle uns, so dass wir uns unsere Gaben

zusammentragen können, dir zu Ehre und den Armen zum Schutz und zum Trost. Amen

http://www.erk-bs.ch/cms/dyn_media/gemeinden/docs/Muenster_Predigt_05-01-03.pdf.